"Bauen und Sehen"
Vortrag von Hinrich Storch, gehalten in Dresden am 8.3.2002 (Teil 1)
Abb.a) Senf und Raps
Unsere Wirklichkeit ist nicht die ganze, sondern lediglich ein unserer
Wahrnehmung zugänglicher, auf unsere Lebensbedürfnisse beschränkter
Ausschnitt.
Selbstverständlich sieht jedes Lebewesen die Wirklichkeit
anders. Für eine Biene zum Beispiel hebt sich die Senfblüte vor
der Rapsblüte durch ein vergleichsweise tieferes Purpurrot ab. So vermag
sie diese ihr wichtigen Nahrungsquellen auf größere Entfernung zu
unterscheiden, wo wir, weil für uns nicht von Bedeutung, nur ein gleiches
Gelb wahrnehmen.
Der Nilhecht baute, da ihm in dem trüben Wasser seines
Lebensraumes Augen wenig nützen konnten, ein höchst empfindliches,
elektrisches Gesichtsfeld auf, um sich in seiner Welt zu orientieren und seine
Beute auszuspähen. Mit Hilfe von Infrarotsensoren verschafft sich die Boa
ein thermographisch aufgebautes Bild ihrer Umgebung zur nächtlichen Jagd.
Abb.b) Sonnenblume
Auch die Sonnenblume hat ein Bild ihrer Lebenswelt, indem sie ihre
Blütendolde dem Gang der Sonne nachführt. Wie Konrad Lorenz bemerkt,
widersprechen sich derart unterschiedliche Bilder nicht. Sie können einander
nicht ausschließen, sind sie vermutlich doch nur verschiedene Facetten
ein und derselben Wirklichkeit.
Dem Menschen, so erscheint es uns jedenfalls, stellt sich die Wirklichkeit in
zwei Bildebenen dar. Die eine betrachtet er durch das Fenster seiner Empfindungen,
die andere mit dem Perspektiv seines Verstandes. Nur dann aber dürfte er
in Einklang mit seiner Natur leben, wenn Gefühl und Gedanke in einem
dicht verwobenen Miteinander am Werk sind. Wenn es also nicht gelingt, die
beiden Bildebenen zur Deckung zu bringen,
entstehen Unschärfen, schlechten Farbdrucken vergleichbar. Der Mensch
gerät in Verwirrung, da man sich ohne klares Bild nicht recht orientieren
kann und schließlich mit sich selbst ins Unreine kommen wird. Sind derart
gegeneinander verschobene Bilder vielleicht die tiefere Ursache für die
mehr als häufig zu beobachtende, gefährliche Kluft zwischen Publikum
und aktueller Architektur?
Hier sollen uns nicht die in diesem Zusammenhang unbedeutenderen
Differenzen interessieren, die z.B. zur Ablehnung neu auftauchender
Stilrichtungen führen können, sondern die Schwelle, an der
angeborenes, zur Synthese strebendes Empfinden, dem wir eine Schlüsselstellung
in der Wahrnehmungsstruktur zuschreiben, durch analytisches Denken außer
Kraft gesetzt werden könnte. Uns interessiert die Frage, ob es eine Grenze
geben kann und wo sie gegebenenfalls liegt, an der Rationalität, obwohl
zum Wesen des Menschen gehörend, das Bewußtsein so weit
dominieren könnte, da es schließlich in ein angekränkeltes
Ungleichgewicht gerät.
Die Voraussetzung nun, ein Bauwerk unvermittelt, also ohne Vermittlung
durch Dritte, mit den eigenen Augen zu begreifen, wäre, so vermuten wir,
eine irgendwie geartete Übereinstimmung seiner Architektur mit angeborenen
Strukturen des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Es liegt nahe, eine Art
Filterfunktion dieser Strukturen anzunehmen, die
durchläßt und verstehen zuläßt, wenn diese Übereinstimmung
gegeben ist, und die zurückweist und nicht verstehen läßt,
wenn das Gesehene etwas völlig anderes ist, als in den Strukturen vorgebildet
und von ihnen erwartet, und ihnen daher unvorstellbar vorkommt. Der uns
mitgegebenen Wahrnehmungsfähigkeit entspräche demnach ein
spiegelbildlich äquivalentes Wahrnehmungsbedürfnis, das zwar vom
Verstand her überformbar ist, aber trotzdem in wesentlichen Zügen
festliegt. Verließe die Formensprache eines Bauwerkes diesen festgelegten
Bereich, wäre unsere Anpassungsfähigkeit grundsätzlich
überfordert. Wir könnten es nicht verstehen, weil es uns wesensfremd
ist und ohne die geringste Chance bleibt, sich uns zu erklären.
Eine Parallele zu dem Gedanken einer Vorstrukturierung des Sehens finden wir
in der Theorie des bekannten Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky, die besagt,
daß eine im menschlichen Gehirn vorstrukturierte universelle
Grammatik allen Sprachen zugrunde läge und das erstaunlich frühe
Sprechen bereits in ersten Kinderjahren überhaupt ermögliche.
Vergleicht man das Bauen der unterschiedlichen Kulturen auf der Erde, und
zwar bevor sie weltumgreifend eingeebnet worden sind, so ist nicht zu
übersehen, ähnliche klimatische Verhältnisse und als deren
Folge auch ähnliche Ressourcen vorausgesetzt, daß die betreffenden
Bauformen trotz aller charakteristischen Unterschiede doch in ihren Wesensmerkmalen
auf frappierende Weise übereinstimmen. Sei es das hochkultivierte
Werk der Baukunst oder die einfache Hütte.
Auch angeborene Strukturen können degenerieren, wenn sie nicht
angeregt werden, betont Noam Chomsky in seinem Buch "Sprache und Geist". Wie
für das Sprechen wird das auch für unser Sehen gelten. Es
kann ausgebildet, durch falsche Erziehung aber auch verbildet werden. Verbilden
wir das Sehen, müssen sich Denken und Empfinden ebenfalls verformen,
wovon rückwirkend wiederum das Sehen angekränkelt wird; denn sie
alle beeinflussen sich wechselseitig. Eine verhängnisvoller Kreis.
Sind wir in ihm gefangen, bemerken wir nicht mehr, wenn wir unser Umfeld verderben.
Doch wir sollten nicht glauben, man gewöhne sich unbeschadet daran.
Unserer Meinung nach können natürliche Anlagen durch Gewohnheit
zwar übertüncht werden, in ihren Grundzügen aber bleiben sie
trotzdem bestehen. So daß wir, vielen von uns wohl unbewußt,
an einem Umfeld zu leiden hätten, das der uns von Natur aus mitgegebenen
Wahrnehmungsstruktur nicht gerecht wird. Vermutlich auch, wenn wir uns
scheinbar daran gewöhnt und sogar, wenn wir das selbst verursacht haben.
Aller Gewöhnung zum Trotz wird unser Auge im Kern unverändert
reagieren und seiner ursprünglichen Anlage gemäß ermessen,
ob die Erscheinungsformen des menschengemachten Umfeldes uns zuträglich
sind oder nicht. Vom Auge aus entscheiden wir schließlich über
Wert oder Unwert unserer gebauten Welt, denn nach unserer Überzeugung
sind natürliche Wahrnehmungsgaben, Wohlbefinden und Wertempfinden
untrennbar dicht miteinander verwoben.
Abb.01 (Kinderbild)
Wenn das zutrifft, müßte
die Beobachtung unverbildeter Wahrnehmungseigenheiten Rückschlüsse
auf ein Bauen erlauben, das unserem angeborenen Wahrnehmungsbedürfnis
und damit auch unseren naturgegebenen Befindlichkeiten gerecht wird.
Wir stellen deshalb die Malerei eines Kindes an den Anfang unserer Betrachtung.
Es ist ja anzunehmen, daß Kinder sich auf unverfälschte Sinne
stützen können. Auf ihren Bildern dürften natürliche
Wahrnehmungseigenschaften am ehesten unverzerrt herauskommen. Probieren wir es,
uns an einem solchen Kinderbild zu orientieren.
(Abb.01 Kinderbild)
Wir sehen zunächst eine Komposition aus in sich abgeschlossenen,
deutlich gegeneinander abgegrenzten Teilen. Sie alle sind Gegenstände,
die auf der Bildfläche spannungsvoll verteilt sind. In der Mitte, im
Vordergrund das Mädchen. Nach rechts aufsteigend nacheinander angeordnet
Baum und Haus. Deren Massen implizieren zunächst eine Bewegung nach rechts.
Um sie auszutarieren, ist die Sonne als Gegengewicht oben links in die
äußerste Ecke gewandert. Die Rauchfahne macht diese Beziehung
deutlicher, indem sie eine Verbindung zwischen ihnen andeutet und schwebend
zugleich das NichtSichtbare, die Luft, wahrnehmbar macht. Der Rasen betont die
Waagerechte, die als Bezug für die vertikale Struktur von Figur, Baum und
Haus gebraucht wird. Der Busch, links im Bild, bewirkt, daß die Figur
ihre Selbständigkeit bewahrt und nicht mit Baum und Haus zu einer Gruppe
verschmilzt. Außerdem sorgt er mit allen anderen Elementen zusammen
für eine gleichmäßige Struktur, eine durchgehende optische
Rauhigkeit der Bildoberfläche. Die Farbgebung, obschon wesentlicher
Bestandteil der Komposition, erhält ihren Sinn von den Gegenständen
her. Sie hat also, abgesehen vom malerischen Reiz, erklärenden Charakter.
Abb.02 Kinderbild in Stücken
Stellen wir uns vor, die Gegenstände wären gleichgültig
über die Bildfläche verstreut. Wie Worte eines zuvor sinnvoll
gesetzten Satzes, die man durcheinandergeschüttelt hätte. Eine
solche Darstellung hätte uns nichts zu sagen.
(Abb.02 Kinderbild in Stücken)
Eine Komposition verwandelt also ein sonst gleichgültiges Nebeneinander
von Gegenständen in ein sinnreiches Miteinander. Sie erst faßt eine
unbestimmte Menge einzelner Teile zu einer sich von seiner Umgebung abhebenden,
leicht aufzufassenden Einheit zusammen. Was ein unverständliches Gewirr
gewesen wäre, ist nun eine einfache Mitteilung. Durch die Ordnung der
Komposition ist sie vom Großen ins Kleine gegliedert. Bevor wir uns mit
Einzelheiten befassen müssen, bekommen wir einen groben Überblick
zur schnellen Orientierung. Das Verfahren, sozusagen von oben in eine Information
einzuführen Bilder sind Informationen und erst danach mit
Einzelheiten zu kommen, sollten wir natürlich auf das Buchstabieren eines
Bauwerkes übertragen können. Dem sollte sein Aufbau genügen.
Für das Verständnis steht deshalb ein einfacher, übersichtlicher
Habitus an vorderster Stelle. Einzelheiten sind zwar wesentlich, werden aber
erst später interessant. Wie die grobe Vorinformation einer Schlagzeile
Aufmerksamkeit erregt, die Details aber erst beim näheren Hinsehen gelesen
werden.
Schon durch das beziehungsreiche Miteinander, durch die Abhängigkeit
seiner Motive voneinander teilt uns das Kind mit, daß in seiner Welt
nichts isoliert für sich steht. In seiner Vorstellung sind weder es selbst,
noch das Haus, noch die übrigen Gegenstände seiner Umgebung voneinander
zu trennen.
Rückschlüsse auf ein wahrnehmungsgerechtes Bauen liegen nahe.
Auch ein Bauwerk wird durch ein Beziehungsgeflecht zum Sprechen gebracht.
Dann wirkt es lebendig. Zunächst hat es mit seinem Umfeld zu tun.
Steht es frei in der Landschaft, wird es Bezüge zur Natur dieser
Landschaft eingehen müssen. In der Stadt soll es sich einerseits
in einen Platz oder Straßenraum einfügen, ihm andererseits aber
Charakter geben.Im Gegensatz zu einem Bild ist jedwedes Gebäude
ein Kind des Zwecks. In allen seinen Teilen. Das Rüstzeug ist,
wenn auch reichhaltig, so ausschließlich materieller Art. Lediglich
Zweckgebundenes steht zur Verfügung. Wie die Gegenstände
auf dem Bild sind es eindeutige Begriffe.
Abb.03 und Abb.04
Die Begriffe der Architektursprache:
Abb.03 Säulen, Sockel, Pfeiler, Laibungen, Ecken, Kanten, Gewände,
Türen,
Abb.04 Tore, Fenster, Sprossen, Rahmen, Wände, Decken, Gesimse,
Fugen, Fußboden, Platten, Balken, Sturz, Bogen, Gewölbe, Schornstein,
Dach, Attika, Treppen und Geländer.
|
Abb.05 Foto Treppe Nikolaischule
Mit diesem Arsenal handfester Gegenstände aus Beton, Stein, Ziegel,
Kunststoffen, Holz, Glas, Aluminium, Textilien und Stahl können wir wie
das Kind komponieren, indem wir Massen ordnen, Materialwerte und Farben
ausspielen, Proportionen verändern, unterschiedliche Gewichte geben,
dichter zusammenrücken oder weiter voneinander entfernen.
(Abb.05 Foto Treppe Nikolaischule)
Abb.06 Komposition aus Eingangsportal, Treppe, Bildnische
Um schließlich mit der Spannung, in die wir sie untereinander
versetzen, einen über den materiellen Zweck hinausgehenden immateriellen,
geistigen Wert zu erzeugen. Der liegt in ganzheitlichen Qualitäten, die
wir Ausdruck, Klang, Harmonie, Ausstrahlung oder gar Schönheit nennen.
Abb.06 Komposition aus Eingangsportal, Treppe, Bildnische
Es handelt sich damit um Werte, die ihrer Natur nach dem "Dazwischen"
entspringen, also eigentlich nicht in den Gegenständen selbst zu finden sind.
Da liegt der Gedanke nicht fern, daß das Haus, um ihm in zeitgemäßer
Sprache Wert zu verleihen, nicht ein jedes Mal aufs neue erfunden zu werden braucht.
Meist wird es genügen, seine Glieder auf neue Weise zu setzen.
Schauen wir uns das Bild nochmals an, entdecken wir eine uns zwar
selbstverständlich vorkommende, trotzdem aber bedeutsame Mitteilung.
Sie heißt: "Ich habe ein Wohnhaus gemalt".
(Abb.07 Kinderbild)
Abb.07 Kinderbild
Schon die enge Bildbeziehung zwischen Figur der kleinen Malerin
und Haus weist indirekt auf ein, ihr Wohnhaus hin.
Direkt aber kommt das eigens im Habitus des Bauwerkes zum Ausdruck, der
unverkennbar die Züge dieses wohlbekannten Typus trägt. Und das,
obgleich sie Einzelheiten, wie Tür und Fenster, sehr freizügig verteilt
und nach Gutdünken angeordnet hat. Auf Kleinigkeiten scheint es ihr
nicht anzukommen. Eine eindeutige Charakterisierung ist ihr trotzdem gelungen.
Das ist deshalb von Bedeutung, weil wir hier auf eine dem Menschen
eigentümliche Eigenschaft der Wahrnehmung stoßen, nämlich die,
die mannigfachen Einzelheiten des Sehfeldes auf das ihnen zugrunde liegende
Allgemeine zu reduzieren. So macht uns hier die Reduktion auf das Wesentliche,
den Typus, auf einen Blick anschaulich, um welche Art Haus es sich wohl handelt.
Die Eigenschaft menschlicher Wahrnehmung, das Allgemeine vor dem Speziellen
zu sehen, vereinfacht das Sehfeld und bereichert es paradoxerweise zugleich.
Es wird insofern vereinfacht, als wir uns in der bunten Welt von tausenderlei
Erscheinungen zunächst auf nur wenige Kategorien konzentrieren müssen.
Damit verringern wir eine eigentlich unübersehbare Menge von Einzelheiten
auf wenige leicht zu erfassende Eckpunkte, die Typen. Die Bereicherung besteht
nun darin, daß sich vor dem ruhigen Grund von Ähnlichkeiten der
Typen untereinander die individuellen Züge des einzelnen Bauwerks
überhaupt erst abheben und zur Geltung kommen. Ähnlichkeit
heißt also das alle Mitglieder einer Gruppe gleichen Typs verbindende
Band, und Ähnlichkeiten heben die Unterschiede ans Licht. Mit einem Blick
sind wir im Bilde.
Abb. 08 Baum in Mürren
Rudolf Arnheim bezeichnet diesen Vorgang, das Allgemeine vor dem Speziellen
aufzufassen, als begriffliches Sehen. Wie wir eben unseren Ahorn vor dem
Haus ohne weiteres mit dem übergeordneten Begriff Baum belegen, indem wir
seine individuellen Formen auf die Essenz aller Bäume zurückführen.
(Abb. 08 Baum in Mürren)
Wie der Geist des konkret Wahrnehmbaren bedarf, um in Erscheinung zu
treten, so vermag sich ein Gegenstand nur mit Hilfe seiner greibaren,
ursprünglich ja vom Zweck bedingten Form zu artikulieren. Seine Sprache
ist der Ausdruck handgreiflicher Formen. Sein Wesen kommt nur durch Form zur
Sprache. Seine Seele leuchtet in der durch Form erzeugten Ausstrahlung auf.
Form, Zweck und Wesen hängen also eng zusammen und vereinigen sich im
Habitus, den wir als ein Ganzes erfassen.
Es ist daher für uns selbstverständlich, daß sich ein
Bauernhaus sowohl hinsichtlich seiner Ausstrahlung als auch seiner Form von
einem Wohnhaus unterscheidet. Ein Bauwerk wäre vor unseren Augen indifferent,
wenn Zweck und Habitus sich nicht deckten. Undurchschaubar sogar, wenn man
ihm den Zweck nicht ansehen könnte.
Ohne eindeutige Haltung eben keine Anschaulichkeit. Das stellt die
sonst großzügige, in diesem Punkt aber genaue Malerei ganz außer
Zweifel.
Abb.09 Plisch und Plum
Welch scharfen Blick wir übrigens auch für die Einheit von
Habitus und Wesen haben und wie deshalb umgekehrt, es entscheidend ist,
ihn mit der Formensprache genau zu treffen, illustriert die gerade wegen
ihrer Präzision besonders komische Zeichnung von Wilhelm Busch, die
Wolfgang Metzger mit der knappen Frage kommentiert: " Welcher heißt
Plisch, welcher Plum?" Niemand von uns dürfte um die Antwort verlegen sein.
(Abb.09 Plisch und Plum)
Anschaulichkeit ist ein Prinzip der natürlichen Welt. Aber die sie
tatsächlich erzeugende hin und wider wechselnde Wirkung von actio et
reactio fällt uns in der Regel kaum noch auf, weil das Walten der Natur
in unsere stadtgeprägte Zivilisation nur noch gedämpft hereindringt
und das Auge dafür verloren ging. Die Ursache jener Blindheit wird also
darin zu suchen sein, daß wir mit einer ausgefeilten Technik die Grenzen
unserer ökologischen Nische weit hinausgeschoben haben und das Werk
der Naturkräfte, in dem wechselseitige Verknüpfungen die
Regel sind, nur undeutlich aus der Ferne wahrnehmen.
Abb. 10 Skizze Naturkräfte, klimatypische Formen
So kann auch in Vergessenheit geraten, daß Bauen nach wie vor und
in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der Natur ist. Der wichtigste
Zweck eines Bauwerkes bleibt eben der, ihr standzuhalten und das, was im
Hause vorgeht, gegen ihre Unbilden zu schützen.
(Abb. 10 Skizze Naturkräfte, klimatypische Formen)
Wenn zum Beispiel das Dach versagt und es wirklich durchregnet, ist ein
Haus bekanntlich nicht mehr zu gebrauchen. Es kann also auch seinen engeren
Zweck, dem des Wohnens vielleicht oder irgend einer Produktion, nicht
erfüllen. Um in der Sprache der Technik zu reden, es funktioniert
nicht mehr.
Schon mit der hier getroffenen Unterscheidung zwischen einem äußeren
Zweck, dem des Schutzes, und einem inneren, dem des Nutzens, zeichnet sich ab,
daß es sich beim Funktionieren eines Bauwerkes schon um mindestens zwei
zugleich ablaufende, ineinander verschachtelte Vorgänge handelt, die
der in der Architektur gebräuchliche Funktionsbegriff nur grob umschreibt
und der wohl genauer definiert werden müßte. Das wollen wir
jetzt versuchen.
[weiter zu Teil 2]
|