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"Bauen und Sehen" (Teil 3)


Nun also zum letzten Glied der Wahrnehmungskette; dem individuellen Haus, unverwechselbar und doch ein Typus. Eine Persönlichkeit, von anderen Persönlichkeiten unterschieden durch die Spuren, die spezielle Anforderungen des Zwecks oder Besonderheiten des Grundstückes in Topographie und Zuschnitt, aber auch manche Eigentümlichkeit unseres Geschmacks hinterlassen haben. Vergleichbar den Geschöpfen der Natur, die durch ihre Lebensumstände geprägt zu Individuen werden und eine nur ihnen eigene Physiognomie annehmen, handele es sich nun um Pflanzen, Tiere oder den Menschen. In deren Zügen die Summe ihrer Lebenserfahrungen eingegraben und gleichsam gespeichert ist. Das Gesicht, ein Nachschlagwerk des Umgangs mit der Welt, Spiegel auch der zähen Fasern, die uns, ob bewußt oder unbewußt, vielfach an das Dasein binden.

Ohne diese Bande keine Ausprägung, kein Gesicht. Kein Haus, sondern ein ausdrucksloses, nicht benennbares Volumen ohne Eigenschaften. Als Kinder alltäglicher Gegenwart philosophieren wir nicht, sondern uns treiben naheliegende, ganz reale Ziele zum Bauen. Wir bauen, um einen dringenden, genau bezeichneten Bedarf zu decken. Antrieb unseres Bauwillens ist also nach wie vor der Zweck. Ihn zu definieren, ist zuförderst Sache des Verstandes; ihm mit dem Bauwerk Gestalt zu geben aber nicht. Das Empfinden wird dabei entscheidend mitspielen. Jedem sekundärem Zweck nämlich würde das eigenschaftslose Neutrum genügen.

Abb.23 Zerfallender Turm, Christiansö

Abb.23 Zerfallender Turm, Christiansö


Dagegen haben wir ein lebhaftes Bild vor Augen, wenn wir den Bleistift zur Hand nehmen, ein Bauwerk zu planen, oder Kelle und Stein, um es aufzuführen. Ergebnis unseres Handelns ist eine unmittelbar und von vornherein umrissene Gestalt. Bauen wir, gehen wir demnach von einem bestimmten Individuum aus und gehen damit also konträr zur Reihenfolge der Wahrnehmungsebenen vor. Aus der Lage des Grundstückes zur Straße folgern wir zum Beispiel die Anordnung des Einganges. Licht und Sonne haben einen bestimmenden Einfluß auf die Lage der Fenster und damit auch auf das Gefüge des Grundrisses. Alles zusammen wieder muß dem eigentlichen Zweck des Gebäudes genügen, sei es nun ein Wohnhaus, eine Stätte des Handels oder irgend einer Produktion.

An Hand dieser Größen läßt sich ein für seinen Zweck typisches und die Sonderheiten seines Standortes charakteristisches Bauwerk entwickeln. Trotzdem kommt es nicht zwangsläufig zustande, wie die Lösung einer Rechenaufgabe. Zwar genügt Rationalität zur richtigen Handhabung solcher bestimmenden Faktoren, aber sie reicht nicht aus, ein lebendiges Bild daraus zu formen. Das Bild, die Gestalt, die das Viele gleichsam als Ganzes umhüllt, es erst zum Ganzen macht, ist eine Frucht des Empfindens.

Es liegt im Wesen der Schöpfung, Überlebtes abtreten zu lassen, um Neuem Platz zu machen.
(Abb.23 Zerfallender Turm, Christiansö)

Zuförderst auf Sicherheit bedacht zu sein und alles und jedes zu regeln, sich am Bestehenden festzuklammern und nicht das Mindeste in Frage zu stellen, diese sich bei uns rapide ausbreitenden Erscheinungen sind nicht gerade Anzeichen jugendlicher Frische. Sind wir nicht mehr entwicklungsbereit? Zu keiner Entwicklung mehr fähig? Vielleicht verraten gerade die Übertreibungen des Individualismus einen kräftigen Schuß Lebensmut. Erscheinen sie uns doch als eine Gegenreaktion, wie ein Befreiungsversuch aus den Fesseln überflüssiger, fremdverfügter Gesetze, Vorschriften, Normen, Regeln und Kontrollen, die jede Initiative ersticken. Wie das Rasen eines Tieres gegen die Eisen, die es gefangen halten. Doch Reaktion nur? Ein vielleicht notwendiger Protest, der neue Perspektiven vielleicht doch nicht eröffnet, beim flüchtigen Hinsehen eher wie eine Sackgasse wirkt.

Wie ein Ast unserer Kultur, der nicht mehr fortzugrünen, sondern von den Elixieren des Lebens abgeschnitten in Verwachsungen ohne erkennbaren Sinn zu enden scheint. Die Energie aber, die aus dem Aufbegehren leuchtet, ja, sie müßte schließlich doch imstande sein, Kräfte freizumachen, die uns an die lebendigen Säfte des Stammes zurückführen? Nicht jedoch, um dort bewegungslos zu verharren oder gebannt am Schaft der Vergangenheit hinabzuschauen, sondern nach Neuem strebend und darin verzweigend weiter zu gedeihen. Neuem jedoch, das sich seiner Lebenslinien gegenwärtig ist.


Abb.24 Skizze, Museum Leipzig

Abb.24 Skizze, Museum Leipzig


Keineswegs jedoch wollen wir uns phantasiefaul auf der Ofenbank der Baugeschichte vorwärmen lassen, wenn es gilt, eigenes zu schaffen. Das herauszuhören, bedeutete ein Mißverstehen. Denn mit dem Archetypus haben wir nicht ein einziges historisches Vorbild an Hand. Nicht ein konkretes Bauwerk, sondern eine Idee schwebt uns vor. Gleichsam der Astralleib des Hauses. Dennoch als ein deutliches Bild vor unserem inneren Auge.

Wo liegt sein Ursprung? Sind es Urformen wie die kegelförmige Hütte oder das Grubenhaus, worauf sich unsere Vorstellung beruft? Oder extrahieren wir lediglich die Summe von Ähnlichkeiten aus der bei uns immer noch vorherrschenden Hausform, dem Kubus mit geneigtem Dach? Vielleicht wirkt alles zusammen. Ererbte Bilder bis in die fernste Vergangenheit vermengt mit jenen der Gegenwart, in unserem Gehirn gespeichert und von unserer Phantasie abgerufen, wenn sie ans Werk geht.
(Abb.24 Skizze, Museum Leipzig)

Auch der flach gedichtete Kubus nimmt dort einen nun schon angestammten Platz ein. Die zu ihm gehörende Abstraktheit sehen wir weniger als eine stilistische Eigenart, sondern als ein sehr starkes künstlerisches Ausdrucksmittel, das wohlüberlegt eingesetzt sein will.

Abb.25 Olympiazentrum München, Zeichnung

Abb.25 Olympiazentrum München, Zeichnung


Wir wollen uns also nicht in eine Grundsatzdebatte über die Für und Wider des flachen oder des geneigten Daches verwickeln lassen. Beide Formen haben je nach Zweck oder Standort des betreffenden Gebäudes ihre Berechtigung. Mit beiden können wir die Verbindung zur praktischen Vernunft und geistigen Klarheit des Archetypus verspielen und an beiden können wir sie aufrecht erhalten. Wo nun die Grenze liegt, jenseits derer sie abreißt, das zu erkennen, dafür gibt es keine Rezepte. Es ist eine Aufgabe des Gefühls. Rezepte wären ja Fesseln, und Fesseln sind der langsame Tod des Schöpferischen.

Hand in Hand mit der Formulierung anspruchsvollerer, vielfältigerer Zwecke verläuft zwangsläufig die Entwicklung einer höheren Bautechnik.
(Abb.25 Olympiazentrum München, Zeichnung)

Verblüffend ist nun, daß sich der bauende Mensch mit der puren technischen Erfüllung der Zwecke gewöhnlich nicht zufrieden geben will, sondern offenbar natürlichen Anlagen folgend das Bedürfnis hat, der nackten Notwendigkeit einer zweckgerecht technischen Perfektion das künstlerische Äquivalent gegenüberzustellen.

Wie, um sein Bauwerk aus der Enge allzu naheliegender Zweckgebundenheit zu befreien und in einen von einem höheren Sinn erfüllten und sich selbst genügenden Gegenstand zu verwandeln. In einen Gegenstand, in dessen Gestalt Materie und Geist eine Symbiose eingehen und der nun, von der Erdenschwere des Zwecks erlöst, um seiner selbst zu existieren vermag, wie wir es von den Schöpfungen der Natur her kennen.

Abb.e)Ahornblatt

Abb.e) Ahornblatt


Auch das anmutige Blatt, mit seinem unregelmäßig regelhaften, zart gezeichneten Äderwerk, dem gekerbten, kraftvoll modellierten Stiel, dem weich ansetzenden, harmonisch geschweiften und fein gezackten Rand, für uns eine Quelle tiefer Freude, ja des Genusses, ist in seinem Kern nichts weiter als eine physikalisch chemische Apparatur zur Durchführung der Photosynthese. Aber die Natur begnügt sich nicht mit der technischen Lösung des Problems, Sonnenenergie in eine für die Pflanze verfügbare Energie, die Glukose zu überführen.

Abb.26 Einfaches Bauernhaus, Zeichnung

Abb.26 Einfaches Bauernhaus, Zeichnung


Sie macht aus der zweckbedingten Apparatur ein kleines Gedicht zur Verherrlichung des Schönen. Die Wohlgestalt des Blattes.Der naive Mensch verfährt wie die Natur. Er sieht die Aufgabe des Hauses zuerst als eine technische. So nimmt er die Konstruktion als Wortführerin der Formung hin, greift sie mit der Kunst also lediglich auf, um sie zu veredeln.

Das mögen dekorative Verzierungen der Konstruktionsglieder sein, wie wir sie vom vielfarbig ausgelegten Schnitzwerk am Gebälk von Fachwerkhäusern her kennen.
(Abb.26 Einfaches Bauernhaus, Zeichnung)

Doch mit dem Bemühen um schöne Proportionen für den Baukörper selbst erfaßt künstlerischer Geist die Gestalt des Bauwerkes insgesamt und er vermag dabei schließlich die vom Zweck verlangte Figur derartig zu überstrahlen, daß ein aus sich selbst existenzfähiges Kunstwerk entsteht. Eine Vervollkommnung, mit der sich menschliches Schöpfertum dem am Beispiel des Blattes erläuterten Ausdruck des Geistes in der Natur nähert.


Abb.27 Rathäuser, Zeichnung

Abb.27 Rathäuser, Zeichnung


Mit dem Auftreten des bauenden Menschen als Person, seinem Heraustreten aus der Anonymität sozialer Gleichförmigkeit, muß gleichlaufend mit dem Entstehen einer Baulandschaft vielfältiger Typen auch die Selbstdarstellung der am Bau Beteiligten, besonders des Bauherrn und des Baumeisters, einhergehen. Bestand zu Anfang der Fortschritt darin, von einem schützenden Unterschlupf zu dem technisch ausgereiften Gebilde des Hauses zu kommen und das auch geistig zu bewältigen, indem man es zur vollendeten Gestalt entwickelte, der Einzelne dabei aber nicht besonders in den Vordergrund trat, beginnt nun, der in jedem Menschen schlummernde Hang zur Individualität sich im Habitus seiner Bauwerke deutlich ablesbar auszuleben.

Brachte man es zuerst zur naturnahen Symbiose von angestrebtem Zweck, der dazu erforderlichen Technik und dem überhöhenden, nach Universalität strebenden Geist, geht der inzwischen zum Baukünstler aufgestiegene Baumeister über die ästhetische Vervollkommnung des handwerklich Notwendigen hinaus. Er steigert das einfache gewachsene Haus bis zur hochgradig gegliederten, vielschichtig komponierten Skulptur, deren künstlerischer Wert manchmal höher eingeschätzt werden kann als der eigentliche Zweck des Gebäudes.
(Abb.27 Rathäuser, Zeichnung)

Der Zweck als der wirkliche Ursprung des Bauwerkes tritt hinter den Ausdruckswillen des Künstlers zurück. Das Künstlerische, seinem Wesen nach individuell angelegt, beginnt, sich zu verselbständigen. Doch mit der daraus entspringenden Bereicherung der Baukunst ist zugleich der Same zum Verlust der Einheit unserer gebauten Welt ist gelegt.

Er geht auf, indem sich der künstlerische Geist schließlich von der Primärgestalt des Hauses löst. Nicht mehr mit der ästhetischen Überhöhung des zweckvoll und technisch Notwendigen beschäftigt er sich, sondern er geht im Extrem umgekehrt davon aus, daß Zweck und Technik seinen eigenen Absichten als willfährige Diener zu folgen haben. In der durchaus fragwürdigen Meinung, das Bauen nunmehr als ein Feld reinen, den Zweck nun nicht mehr nur überspielenden, sondern eines in erster Linie zweckfreien Kunstschaffens betrachten zu dürfen.


Abb.28 Waagerecht aus der Fassade wachsende Bäume

Abb.28 Waagerecht aus der Fassade wachsende Bäume


Diese Sichtweise ist eigentlich weltfremd und kann von der Mehrheit natürlich nicht verstanden werden, zumal sie allzu häufig zu überspitzten und manchmal sogar unpraktischen Lösungen führt. Die naheliegende und am Ende für das Bild unserer gebauten Welt verheerende Folge ist, zweckgerichtetes Bauen und Kunst plötzlich als einander feindlich anzusehen und die letzt genannte abschätzig als etwas Überflüssiges, ja Hinderliches einzustufen. Zumindest wenn es sich um die gewöhnlichen Aufgaben des Alltags handelt.
(Abb.28 Waagerecht aus der Fassade wachsende Bäume)

In der Tat müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob es überhaupt lebenstüchtig ist, wenn man, geht es um die Vergeistigung der Form mit künstlerischen Mitteln, das Praktische geradezu als Handycap betrachtet und kurzerhand hintanstellt. Als sei die Kunst ein unverbindliches Spiel, eine Art intelligenter Jux, den man sich leisten kann, weil man das Alltägliche als gesichert ansieht und die Kunst als ein Werkzeug des Geistes nicht mehr zu benötigen glaubt, um der Nöte praktischen Überlebens auch seelisch Herr zu werden. Das Bauen bietet heute ein zerrissenes, verwirrendes Bild. Auf der einen Seite die bewundernswerte Höchstleistung individuellen Künstlertums mit ihrem Feuerwerk überraschender, nie gekannter Formen; auf der anderen der kümmerliche, jeden Geistes entkleidete sogenannte Zweckbau, die Schachtel von der seelenlosen Gestalt.

Dazwischen die bunt gemischte Schar derjenigen, die aus jedem herausgeklaubt hat, was gerade zu gebrauchen war; positiv strahlend, wie es das Auffälligkeitsgebot der Werbung verlangt. Dünn gesät der geistvolle Alltagsbau, der seinen Platz im Gefüge des Ortsbildes genau einzuschätzen weiß und weder zu bescheiden ist noch seinen Anspruch überzieht. Häufig in der Defensive der Historiker, der, man kann es angesichts des Wirrwarrs verstehen, in der Regel auf dem Status quo ante beharrt, in vielem recht behalten mag; aber manch frischen fruchtversprechenden Reis dabei kappt. Offenbar stellt die gegenwärtige Freizügigkeit unserer Lebensumstände und der Überfluß an technischen Möglichkeiten erhöhte Anforderungen an unser Gefühl für das rechte Maß, und wir sind ihnen noch nicht gewachsen. In der Schnelligkeit, in der sich materielle Freiheiten auftaten, haben wir ihnen ein geistiges Gegengewicht offensichtlich noch nicht geben können. Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Laßt uns gemeinsam daran arbeiten! 

[weiter zu Teil 4]

   



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